Autismus-Selbsthilfe & Info-Forum

Normale Version: Immer diese Gefühle
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Dieser Blogbeitrag erschien urspünglich hier: https://jimsjourney.at/immer-diese-gefuehle/ 

Es ist ein weit verbreitetes Vorurteil, dass Menschen mit einer Autismusspektrumstörung gefühllos seien. Anscheinend haben viele ein Bild von roboterartigen Menschen im Kopf, die rein mechanisch durch ihren Alltag marschieren, so als wären sie von jeder Emotion befreit. Es gibt internationale Schätzungen, die sagen, dass ca. 1% der Bevölkerung eines Landes von Autismus betroffen ist. In Österreich wären das also rund 88.000 Menschen. Eine beachtliche Zahl! Wenn man den Irrglauben des emotionslosen Autisten jetzt hernimmt, dann hieße das ja, dass 88.000 völlig emotionsfreie Menschen unter uns wären. Der ein oder andere wäre mir vielleicht begegnet. Ist aber nicht. Denn: natürlich haben Menschen mit ASS auch Gefühle. Warum auch nicht?

Rumpelstilzchen
Es gilt: kennst Du einen Autisten, kennst Du eben nur einen Autisten. Ich kann nicht für alle Menschen mit Autismus sprechen, sondern wieder nur von Jim erzählen. Jim zeigt seine Gefühle sehr deutlich. Man erkennt sofort, ob er traurig, wütend, frustriert oder richtig gut gelaunt ist. Seine Mimik spielt mit, sein Ton ist entsprechend, sein ganzes Verhalten legt seine Gefühlswelt offen. Das ist toll für uns, denn so müssen wir nicht Rätsel raten. Oft übermannen ihn seine Gefühle aber auch und er weiß nicht recht, wie er sie verarbeiten kann. Es kommt durchaus vor, dass Jim mich mal haut oder tritt, wenn er richtig wütend ist. Nicht weil er schlecht erzogen oder aggressiv ist, sondern weil er nicht weiß, wie er die Wut ableiten kann. Und da meistens ich in der Nähe bin, bekomme ich das ab. Er ist erst vier, ich kann mich also noch gut schützen. Aber auch Jim wird älter, größer und stärker, weshalb es so wichtig ist, mit ihm Mechanismen zu üben, die ihm erlauben, die Energie anders loszuwerden. Bei Wut üben wir: ins Kissen hauen oder auf den Boden stampfen. So stehen wir manchmal wie zwei Rumpelstilzchen da und stampfen was das Zeug hält. Jim lernt dadurch, die Emotion mit einer Reaktion zu verbinden und dabei weder sich selbst noch anderen wehzutun. Leichter ist es, wenn Jim gut drauf oder traurig ist. Da kommt die Reaktion ganz von allein: es wird gelacht oder geweint.

Mama, warum weinst Du?
Was für Jim noch nicht wirklich verständlich ist, sind die Emotionen anderer. Die kann er nicht gut deuten, bzw. es fällt ihm schwer den Gesichtsausdruck zu interpretieren. Im vergangenen Jahr gab es sehr traurige Momente für uns. Für Jim war spürbar, dass etwas anders ist als sonst, aber er konnte nicht einordnen, was es war. Wenn Eltern weinen, fragen Kinder oft nach. Jim konnte das nicht, und so hat er – aus Verzweiflung oder Verlegenheit oder… – die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, indem er zum Beispiel gekitzelt werden wollte. Ich bin ein sehr emotionaler Mensch, Emotion ist mein zweiter Vorname. Schon immer, aber seit der Schwangerschaft extrem. Ich bin sehr nah am Wasser gebaut. Bei jedem noch so stumpfen Film finde ich mit Sicherheit die kleine schnulzige Sequenz zum Weinen, in der Oper laufen die Tränen schon, wenn der Dirigent den Auftakt zur Ouvertüre gibt. Im Heulen bin ich Profi. Aber auch im Freuen. Wenn ich mich für etwas begeistern kann, dann richtig. Dann bin ich head over heels aufgeregt und allerbester Laune. Und morgens? Da bin ich unfassbar muffelig und nicht ansprechbar. Für Jim ist das alles wahrscheinlich ganz gut, denn meine Gefühle lassen sich hervorragend erkennen und differenzieren.

Wütender Ochse, lachender Affe
Damit Jim lernt, die Gefühle anderer zu deuten, üben wir das mit ihm. Das geht im ersten Schritt wunderbar mit Kinderbüchern und Comics: jeder Gesichtsausdruck wird mit der Geschichte erklärt. Der Affe lacht, der Hase ist traurig, der Ochse ist wütend, die Maus ist fröhlich und – natürlich: Bobo ist müde. Nun sind diese zustände in Kinderbüchern und Comics sehr überzogen dargestellt. Im realen Leben aber lachen wir ja selten so, dass uns links und rechts die Freudentränen im hohen Bogen aus den Augen schießen. Die wenigsten Menschen laufen auch tiefrot an und fletschen die Zähne, wenn sie wütend sind. Sobald Jim das in den Büchern richtig zuordnen kann, gehen wir einen Schritt weiter und üben vor dem Spiegel, gehen also von der überzogenen Darstellung zur realistischen. Da lachen wir, runzeln die Stirn, ziehen die Mundwinkel nach unten, knurren wütend und und und. Wer sich noch an [b]Wer ist eigentlich dieser Ich?[/b] erinnert, weiß, dass Jim auch den Ich-Bezug lernt. Ist er traurig und weint, dann nehme ich seine Hand, wir klopfen ihm auf die Brust und sagen „ich bin traurig“. So bringen wir Emotion, Mimik und Aussage zusammen.

Jim müde
Bis jetzt gibt es bei Jim drei Emotionen: lachen, böse und traurig sein. Die kann er aus dem Effeff deuten und unterscheiden. Bei uns ist also alles immer lustig, böse oder traurig. Ein guter Anfang. Und dann gibt es noch „Jim ist müde“. Das bedeutet aber nicht, dass Jim müde ist, sondern dass ihm etwas nicht passt oder – meistens: dass ich mal bitte den Mund halten soll. Kein Witz. [b]Wenn ich ihm mal wieder das Ohr abkaue, schaut er mich erschöpft an und sagt: „Mama, Jim müde.“ Some attitude, junger Mann. Dann klopfe ich mir auf die Brust und antworte: „Okay, ich bin jetzt ruhig.“[/b]

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Hallo Marison, echt toller Beitrag! Es ist sehr interessant, wie Jim so agiert und reagiert. Die Gemütsausdrücke wie er sie äussert. wie Jim ist böse, Jim ...., usw. 

Meine Frage : fällt Jim auch viel ins Englische? 

lg Andi
Nein, Englisch hat er fast ganz abgelegt. Das hatten wir eine Zeit lang, aber mittlerweile sagt Jim nur noch deutsche Wörter bis auf wenige Ausnahmen. Wir sprechen aber auch sehr konsequent nur Deutsch mit ihm.
Ben verzichtet nicht auf seine Fremdsprachen, ob gut oder schlecht, hier sind so viele verschiedene Meinungen, der eine Therapeut sagt wir sollen ihm das unbedingt lassen, der andere sagt wir sollen unsere Muttersprache (Deutsch) reden, wir versuchen wenn er ins englische fällt auf deutsch zu antworten oder versuchen in beiden Sprachen zu antworten. Er schnappt alles an Worten in vielen Sprachen auf, setzt sie so ein wie er es braucht und kann, überladet und verzweifelt aber, wenn wir ihn nicht verstehen. Sehr sehr schwierig für uns. 
Hat Jim auch so genannte Ticks? Muss er sich besonderns spüren?
Ben ist am Kopf sehr sehr gefühlsempfindlich, und leider Kopfwärts fast gar nicht. Sein "ich muss mich spüren" ist sein Kinn. Er klopft sich mit der Hand , bzw Faust oder leider auch mit Gegenständen darauf und dass oft zu stark und fest. Ihm davon auf etwas anderes umzuleiten, ist uns bis Heute nicht geglückt. 

Wie seiht es mit Tagesabläufen aus? Gleichbleibende Rituale ?

Ben liebt ja Windräder und besondere Gebäude, wie z.b Eifelturm, Big Ben, Redentor Christi, schiefe Turm von Pisa, die er auch in Spielbausätzen hat und ihn Bausteinen versucht nachzubauen .Windräder haben wir hier in der Gänserndorfer Gegend mehr als genug, und fahren täglich zu "seinen" besonderen Windrad. Er begrüsst es , läuft rundherum , Steine werden beschriftet und aufgelegt.

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Nein, Ticks hat Jim keine. Bei den Tagesabläufen müssen wir aber sehr konsequent in der Routine bleiben. Wenn etwas nicht so läuft wie immer, ist das schwer auszuhalten für ihn. Das müssen wir halt immer gut vorbereiten, mit Bildkarten zum Beispiel.
Ohhh Ja, Tagesabläufe. Teacch  hilft uns da sehr, aber wehe es ist mal anders, Schuhe immer das selbe Model, seit Schuhgrösse 23. jetzt hat er 30er.

Ein großes Problem bereitet ihm auch, wenn Bianca oder Ich mit jemanden sprechen, egal wo, beim Einkauf wenn uns wer anspricht, oder einen Bekannten am Weg treffen, da überladet er sofort, das Selbige wenn wir lachen, damit kann er nicht umgehen ... sehr schwer in solchen Situationen sofort richtig zu reagieren.