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Autisten urteilen rationaler
Bei Entscheidungen mischen oft Gefühle mit, auch wenn sie mit der Sache nichts zu tun haben. So kommt es zu typischen Fehlurteilen. Autistische Menschen sind dafür weniger anfällig.
von Christiane Gelitz

Junge Frau mit Brille studiert Datenreihen auf einem Bildschirm
Denken ist anstrengend, deshalb folgen viele gern ihrem Bauchgefühl. Solche mentalen Abkürzungen, »Heuristiken« genannt, gelten als Ursache zahlreicher bekannter Fehlschlüsse. Autistische Personen neigen nicht so sehr dazu: Sie urteilen häufig rationaler, wie ein Forschungsteam vom Massachusetts Institute of Technology in der Fachzeitschrift »Trends of Cognitive Sciences« berichtet.

In ihrem Forschungsüberblick vergleicht die Gruppe um Neurobiologin Liron Rozenkrantz Menschen mit Autismus-Diagnose oder ausgeprägten autistischen Merkmalen mit einer Kontrollgruppe nicht autistischer Personen, häufig »neurotypisch« genannt. Als Maß für mehr oder weniger autistische Merkmale dient unter anderem der »Autismus-Spektrum-Quotient« (AQ), ein Test, der nach typisch autistischem Erleben und Verhalten fragt, zum Beispiel: »Es regt mich auf, wenn mich jemand bei meiner täglichen Routine stört.«


Gefühle und Kontext bleiben außen vor
Demnach neigen autistische Menschen weniger zu Fehlschlüssen. Beispielsweise lassen sie sich von bereits getätigten Ausgaben nicht dazu verleiten, noch mehr in eine verlorene Sache zu investieren (»sunk cost fallacy«). Sie lassen sich auch von einem positiven »Framing« weniger leicht manipulieren, etwa wenn sie vor die Wahl gestellt werden, bei einem Gewinnspiel von 50 Dollar 30 zu verlieren oder 20 zu behalten (faktisch dasselbe). Und mit unangenehmen Informationen gehen sie rationaler um: Sollen sie die Wahrscheinlichkeit einschätzen, selbst eines Tages an Krebs zu erkranken, nutzen sie erwünschte und unerwünschte Informationen gleichermaßen. Neurotypische Menschen tun das nicht: Sie korrigieren eher eine zu pessimistische als eine zu optimistische erste Prognose.

Die Neurobiologin Liron Rozenkrantz und ihr Team vermuten, dass Autisten weniger empfänglich sind für Einflüsse von Emotionen, die das rationale Denken stören und zu einem Fehlschluss führen können. Die neuronale Basis ist bereits bekannt: eine verminderte Aktivität in Hirnregionen wie den Mandelkernen, die Emotionen verarbeiten. Das brächte zwar im sozialen Miteinander Nachteile, erlaube aber, Informationen unbeeinflusst von Emotionen zu betrachten. Darüber hinaus gelinge es autistischen Menschen deshalb besser, sich auf Details zu konzentrieren und den Kontext auszublenden.

Autistisch: Rational und unbestechlich
Die Forschung widmete sich bislang mehr den Schwierigkeiten, die mit Autismus-Spektrum-Störungen einhergehen, beklagen die Autoren. Auch in den von ihnen zitierten Studien wird verstärkte Rationalität als Zeichen eines Defizits dargestellt. Eine aktuelle Studie im »Journal of Neuroscience« deutet selbst moralische Stärke in eine Schwäche um. Das Experiment stellte Versuchspersonen vor die Wahl, auf eigene Kosten eine gute Sache zu unterstützen oder einen Gewinn aus moralisch fragwürdiger Quelle anzunehmen. Letzteres lehnten autistische Versuchspersonen häufiger ab als neurotypische. Sie hatten weniger die eigenen Vorteile im Blick als die moralischen Kosten ihres Handelns, schreibt die internationale Forschungsgruppe – und schließt daraus: Menschen mit Autismus seien »unflexibler«, da sie an einer moralischen Regel festhielten, obwohl eine unmoralische Aktion ihnen nutzen könnte.

Damit liegen sie auf Linie mit den gängigen Diagnosemanualen, die Autismus vor allem an Defiziten im Kontakt und in der nonverbalen Kommunikation festmachen und als Störung ansehen, sofern er das Leben beeinträchtigt. Viele Betroffene betrachten Autismus allerdings nicht als Störung, sondern als eine Variante auf einem breiten Spektrum des Verhaltens und Erlebens, der Neurodiversität.

Für Autistinnen und Autisten erscheinen die sozialen Interaktionen der neurotypischen Mehrheit wie ein kompliziertes Spiel, dessen Regeln sie nicht kennen. Daneben haben sie zum Beispiel Veränderungsängste, halten starr an Ritualen und Routinen fest oder beschäftigen sich exzessiv mit Spezialthemen. In der frühen Kindheit ist oft die sprachliche und motorische Entwicklung verzögert; in schweren Fällen brauchen sie lebenslang Unterstützung. Autismus kann mit verminderter, aber ebenso mit durchschnittlicher oder hoher Intelligenz einhergehen.